Teil 4 von 5: Der mentale und emotionale Aspekt

Bevor ihr meine Eindrücke einordnen könnt, solltet ihr ein wenig über mich wissen. Ich bin Krebs mit Aszendent Skorpion – und ja, die typischen Eigenschaften passen auf mich: emotional, sensibel, familiär, willensstark. Ich komme leicht ins Gespräch, bin neuen Begegnungen aber zunächst vorsichtig gegenüber. Ist das Eis aber mal gebrochen, bin ich loyal.

Meine Flüge waren gebucht: Am 31. März 2016 ging’s von Zürich nach Madrid, zurück am 21. April. Am 20. April flog ich von Santiago de Compostela nach Madrid, denn ich musste noch nach Toledo – dort wartete mein Foodtruck, der fertiggestellt wurde. Der Plan war klar: 500 Kilometer in 20 Tagen.

 

Mentale Vorbereitung
Im ersten Teil dieser Serie ging es um die körperliche Vorbereitung – hier nun um die mentale. Für mich stand fest: Ich gehe den Camino allein. Drei Wochen, in einem fremden Land, mit einer Sprache, die ich zwar spreche, aber nicht perfekt. Ich war nervös, aber Erfahrungen aus Argentinien und England gaben mir Vertrauen. Der mentale Grundstein war also längst gelegt.

 

No risk, no fun
Und ja – ich sprach mittlerweile Spanisch. Aber als ich nach Argentinien ging, konnte ich kein Wort. Nur ein Mini-Wörterbuch im Gepäck. Vorbereitung? Minimal. Mut? Maximal. Genau das ist für mich mentale Stärke: die Haltung „No risk, no fun“.

Die ersten Tage verliefen gut. Schönes Wetter, entspannte Etappen, erste Bekanntschaften – und viel Ruhe. Ich schrieb viel Tagebuch. Doch ohne echte Gespräche, allein beim Abendessen, wuchs der Wunsch nach Gesellschaft. Als dann noch Regen, Wind und Kälte dazukamen, sank meine Stimmung.

Unterwegs geht jeder seinen Weg
Genau in diesem Moment traf ich Miguel. Ein Mann in den Sechzigern, topfit, unterwegs auf seinem fünften Camino. Ein lebensfroher Typ mit trockenem Humor und einer Schwäche für gutes Essen. Wir verstanden uns sofort. Und einen Michelin-Guide in Menschengestalt an meiner Seite zu haben, war ein Geschenk. Viele Pilger ticken ähnlich: Unterwegs geht jeder seinen Weg, aber morgens und abends freut man sich über bekannte Gesichter. Also frühstückten Miguel und ich zusammen, bestimmten unser Tagesziel und liefen dann jeweils alleine los – um uns abends in der vereinbarten Herberge wiederzutreffen. Meine Laune besserte sich schlagartig.

Düstere Gedanken
Tag 6: Schmerzen im linken Fuss – Erschöpfung. Mit Mühe schleppte ich mich nach Puebla de Sanabria, eine wunderschöne Stadt. Ich verabschiedete mich von Miguel und pausierte zwei Tage. Tolles Hostel, gutes Essen – und doch: düstere Gedanken. Zweifel, Einsamkeit, Heimweh. Die mentale Belastung wuchs. Aber mein Ziel war Santiago. Ich erholte mich, nahm doppelt Ibuprofen und sammelte Kraft.

 

Ist das ein Zeichen?
Am dritten Tag ging es weiter – mit Schmerzen. Regen, später Schneesturm. Ich fragte mich: Soll ich abbrechen? In Lubián traf ich überraschend Miguel – er hatte seine Etappe wegen des Wetters unterbrochen. Ein Geschenk des Himmels. Am nächsten Tag stapften wir gemeinsam durch kniehohen Schnee. Die Kälte betäubte den Schmerz, wir kamen gut voran.


Tag 11: Laza. Erschöpft, schmerzender Fuss – aber eine moderne, warme Herberge. Dort traf ich die TRUPPE: sieben Pilger, unterwegs seit Sevilla. Jung und alt, gläubig oder nicht, bunt zusammengewürfelt. Wir spielten, sangen, tranken – und sie nahmen mich auf. Ab da schrieb ich kein Tagebuch mehr – ich hatte schlicht keine Zeit. Ein gutes Zeichen.

 

Ruhm und Ehre
Diese letzten Tage waren intensiv. Freunde gefunden zu haben, Gleichgesinnte – das war das grösste Geschenk auf dem Camino. Die Schmerzen traten in den Hintergrund, der Regen wurde zum treuen Begleiter, Distanzen schrumpften. Was blieb, sind Erinnerungen an eine der besten Zeiten meines Lebens.

Eines ist sicher: Der Jakobsweg ist kein Spaziergang. Er ist mit Schmerz verbunden, mit Qualen und Entbehrungen, mit emotionalen und mentalen Höhen und Tiefen. Aber wer durchhält und in Santiago einzieht, dem gebührt Ruhm und Ehre – auch wenn es nur für sich selbst ist.

Text und Foto: Savas Oyun