Ich muss zugeben, dass es mir im Moment schwerfällt, an Kältegeschichten zu denken, sitze ich doch gerade in der Südtürkei am Strand und geniesse die Ruhe und Einsamkeit bei angenehmen 16 Grad. Doch der Schwumm im kalten Meer lässt einige Erinnerungen aufleben.

Ich lasse nie eine Gelegenheit aus, in einen See oder ein Meer zu springen – eine Angewohnheit, die ich seit 2016 pflege. Zu dieser Zeit begann ich in der Mittagspause zu joggen, und ein unerlässlicher Teil dieser Trainings war der erfrischende Schwumm im Zürichsee danach. Was als Jux in den Sommermonaten begann, entwickelte sich schnell zu einer Obsession. Bald schon konnte ich keine Jogging-Session beenden, ohne in unseren „hauseigenen“ See zu springen.

Ich erinnere mich an einen Tag im Dezember. Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Landschaft war in ein malerisches Weiss gehüllt. Am nächsten Tag gingen meine Kollegen und ich wie vereinbart auf unsere Joggingtour. Nach knapp zehn Kilometern durch 30 Zentimeter tiefen Schnee kamen wir erschöpft an unserem Ausgangspunkt an, doch mich zog es automatisch an die Ufer des Zürichsees.


Meine Obsessionen können groteske Formen annehmen

Selbst meine Kollegen, die es gewohnt waren, mich nach dem Joggen in den See springen zu sehen, konnten kaum glauben, dass ich es bei diesen Temperaturen ernsthaft in Erwägung zog. Aber meine Obsessionen können groteske Formen annehmen. Ohne lange nachzudenken, stürzte ich mich in den See. Doch bereits nach den ersten Schwimmzügen spürte ich, wie die erbarmungslose Kälte wie ein frisch gewetztes Messer durch meine Muskeln und Knochen schnitt. So schnell, wie ich ins Wasser gegangen war, war ich auch wieder draussen.

Während ich mit zitternden Händen versuchte, meine Joggingkleidung wieder anzuziehen, bemerkte ich nicht, dass japanische Touristen mein verrücktes Unterfangen von Anfang an mit ihren Handys festgehalten hatten. Mit einer gewissen inneren Zufriedenheit, diesen fremden Gästen eine unvergessliche Erinnerung geboten zu haben, versuchte ich, das Bild eines unerschrockenen Schweizers zu vermitteln.

All meine anderen Daten stehen bereit, um eines Tages gegen mich verwendet zu werden

Also irgendwo da draussen, in den unergründlichen Tiefen des Internets, schwirrt womöglich ein Video von mir herum. Eines, für das ich nie mein ausdrückliches Einverständnis gegeben habe! Und das ist nicht das einzige – all meine anderen Daten, die das Internet fleissig sammelt, stehen bereit, um eines Tages gegen mich verwendet zu werden. Wann haben wir unsere Privatsphäre so leichtfertig aufgegeben? Ist es ein schleichender Prozess oder gab es einen Wendepunkt?

Je länger ich dieser Gedankenkette folge, desto dunkler erscheint mir die Zukunft. Eine Kälte umgibt mein Herz – Angst und Hoffnungslosigkeit machen sich breit. Doch dann hebe ich meinen Blick und starre zum Horizont, wo sich der blaue Himmel und das Blau des Meeres nur durch einen feinen grauen Streifen voneinander unterscheiden lassen. Ein Anblick so schön, dass alle Dunkelheit und Kälte auf einen Schlag verpuffen.

Clavus clavo pellitur – Einen Dorn zieht man mit einem anderen Dorn heraus.

 

Text & Foto: Savas Oyun